KOLUMNE

von Mag. Marisa Fellner

Lesen Sie zu diesem Thema auch unser aktuelles Feature: Die Leiden der Kindheit
NARBEN DER GEWALT
Wer kennt sie nicht? Wenn Sie zu den wenigen gehören, die mit Gewalt noch keine Bekanntschaft gemacht haben, können Sie sich glücklich schätzen.
Aber ich möchte hier nicht von der alltäglichen Gewalt sprechen, die uns Tag für Tag über den Weg läuft, wenn wir genötigt werden etwas zu tun, was gegen unseren Willen ist, sondern von Mißbrauchsopfern für die Gewalt auf der Tagesordnung steht.
Die Auswirkungen der Gewalt
Die Auswirkungen solch vielfältiger Gewalt lösen verschiedenste Symptome aus wie etwa Persönlichkeitsspaltung. Dieses enorme psychische Leid braucht außergewöhnliche Kräfte und dies ist das Charakteristische aus den Erfahrungen von Opfern. Lesen Sie dazu unseren authentischen Bericht, eines Opfers, dem es ein Anliegen ist seine Erfahrungen anderen mitzuteilen, um so aufmerksam zu machen und uns aus unserer Blindheit und Taubheit wachzurütteln.
Vielfach werden bei uns Kinder mißbraucht, die Dunkelziffer ist sehr hoch zumal sie sich noch nichts sagen trauen oder erst wenn es zu spät ist, sowie in unserem Fall, der in Fortsetzungen in den nächsten Ausgaben gebracht wird.

„Das Kind, das in einer Mißbrauchssituation gefangen ist, muß ungeheuerliche Anpassungsleistungen erbringen. Es muß sich irgendwie das Vertrauen in Menschen bewahren, die nicht vertrauenswürdig sind; es muß sich in einer unsicheren Situation sicher fühlen, darf trotz der angsteinflößenden, unberechenbaren Umgebung die Kontrolle nicht vollkommen verlieren und trotz seiner Hilflosigkeit den Glauben an die eigenen Kräfte nicht aufgeben. Obwohl das Kind sich nicht schützen, nicht für sich allein sorgen kann, muß es den Schutz und die Fürsorge, den die Erwachsenen ihm nicht bieten, mit den einzigen Mitteln ausgleichen, die ihm zur Verfügung stehen: mit einem unausgereiften System psychischer Abwehrmechanismen.” (Judith Lewis Herman)

Wen soll es da verwundern, wenn sich ihre Persönlichkeit spaltet. Später werden solche Menschen von uns oft verurteilt, denn wir kennen die Geschichte dahinter nicht. Wir sehen nur den für uns unlogisch oder unrealistisch handelnden Menschen, in den wir uns mit unserer Erfahrung natürlich nicht hineinfühlen können. Unsere Gedanken gehen meistens nicht so weit zu erahnen welch Schicksal dieser Mensch erlebt hat und das Opfer selbst ist meisten nicht in der Lage, seine Gedanken und Gefühle in der Art auszudrücken, daß sie für uns verständlich wären oder es hat überhaupt nicht den Mut darüber zu sprechen.
Das Kind entwickelt außergewöhnliche Fähigkeiten, die gleichermaßen kreativ wie destruktiv sind.

„So wird die Entwicklung abnormer Bewußtseinszustände gefördert, in denen das Verhältnis von Körper und Seele, Realität und Phantasie, Wissen und Erinnerung verschoben ist. Aus solch veränderten Bewußtseinszuständen kann ein ausgeklügeltes System sehr vielfältiger somatischer und psychischer Symptome entstehen.” (Judith Lewis Herman)

Ausgliederung
Aufgrund dieser Symptome sind wir allzugerne bereit solche Menschen aus der Gesellschaft auszugliedern, was für das Opfer natürlich ein weiterer Beweis ist, in dieser Welt nicht bestehen zu können. Der Genesungsprozeß, nachdem die Gewalt zumindest körperlich vorbei ist, wird dadurch künstlich in die Länge gezogen.

„Die Opfer schildern ein charakteristisches Muster totalitärer Macht, die mit Gewalt und Morddrohungen, unberechenbarem Beharren auf pedantischen Regeln, (Anmerkung der Red.: auch dies können sie in unserer Featureserie von Regina P. mitverfolgen) unerwarteten Belohnungen und der Ausschaltung aller konkurrierenden Beziehungen durch Isolation, Geheimhaltung und Betrug durchgesetzt wird. Stärker noch als Erwachsene entwickeln Kinder, die in einem solchen gewalttätigen Klima aufwachsen, pathologische Bindungen an die, die sie mißhandeln und vernachlässigen.” (Judith Lewis Herman)

Die Kinder können diese Ablehnung nicht verstehen und geben sich selbst die Schuld an diesen Mißhandlungen, sie glauben etwas falsch gemacht zu haben, nicht brav gewesen zu sein und die Strafe verdient zu haben. Um so mehr sie geschlagen werden, um so mehr bemühen sie sich alles recht zu machen und brav zu sein um die Liebe, die Anerkennung und den Respekt der Eltern kämpfend. Doch diese Strategie führt häufig in die Isolation und in eine Sackgasse. Sie trauen sich nicht zu erzählen, daß sie geschlagen werden, denn das würde nicht in ihr Bild passen, das sie sich so mühsam aufgebaut haben um zu überleben. Eltern werden von ihren Kindern zunächst einmal bedingungslos geliebt und sie sind vorerst auch die einzige Orientierung, die sie haben, die einzigen Vorbilder um unterscheiden zu lernen, was gut und was schlecht ist. Ihr Weltbild und speziell ihre Persönlichkeit werden in einer Art geprägt, die wir nicht verstehen und auch nicht nachvollziehen können.

An diesem Punkt möchte ich aufhören und ihnen nur eines ans Herz legen, bauen sie ihre Vorurteile gegenüber Behinderten und psychisch kranken Menschen (Minderheiten allgemein) ab, denn sie nur so können sie einen positiven Beitrag leisten und deren Leid etwas verringern. Leben Sie nach dem kategorischer Imperativ:
"Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." Oder anders: Tue nichts, was Du nicht willst, dass man mit dir tut.

 
Die Zitate sind dem Buch "Die Narben der Gewalt" entnommen, einem der wichtigsten Bücher zum Thema Gewaltopfer.
Autorin ist die amerikanische Psychiaterin Judith Lewis Herman, Professorin an der Harvard Medical School, die sich seit 20 Jahren in Theorie und Praxis mit den Folgen häuslicher, sexueller und politischer Gewalt befaßt. In diesem Buch zieht sie Bilanz über ihre Arbeit, analysiert die Symptome in ihrer erschreckenden Vielfalt und zeigt Wege und Methoden der Behandlung auf.
Das interessante Buch können Sie direkt bei uns bestellen. Preis: öS 321,-

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